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„Europa fehlt die Luftverteidigung: Das Rennen um eine ‚Drohnenmauer‘ scheitert an Geld, Koordination und Zeit“

4 Min. Lesezeit
Mark Rutte und Ursula von der Leyen
Mark Rutte und Ursula von der Leyen am 30. September. Foto: Christophe Licoppe/Europäische Kommission, via Bloomberg.

Ein sprunghafter Anstieg von Eindringversuchen unbemannter Luftfahrzeuge in den europäischen Luftraum hat die westlichen Verbündeten dazu gebracht, ihre Abwehr hastig zu verstärken. Doch der Kontinent steht vor einer ganzen Reihe von Hürden – von einem Mangel an Luftverteidigungsmitteln und technologischer Trägheit bis hin zur Komplexität zwischenstaatlicher Koordination und Finanzierung –, die eine schnelle Reaktion erschweren. Nach Einschätzung von Bloomberg droht selbst die von der EU-Kommission vorgeschlagene „Drohnenmauer“ sich über Jahre hinzuziehen.

Was die „Drohnenmauer“ ist – und warum sie gerade jetzt aufkommt

Nachdem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im vergangenen Monat verkündet hatte, die EU werde eine „Drohnenmauer“ errichten, suchten Beamte und Industrievertreter in ganz Europa fieberhaft nach Wegen, den Slogan in die Realität zu überführen. Der Auslöser war eindeutig: Die NATO schoss erstmals Drohnen ab, die den polnischen Luftraum verletzt hatten – und musste dafür teure Raketen gegen billige Attrappen einsetzen. Das ist ein anschaulicher Beleg dafür, wie unzureichend die europäische Luftverteidigungsarchitektur weiterhin ist.

EU-Staats- und Regierungschefs, die sich zu einem informellen Treffen in Kopenhagen zusammenfinden, hoffen, bei den Details voranzukommen. Doch die Komplexität des Projekts und der Umfang der benötigten Ressourcen bedeuten, dass schnelle Ergebnisse unwahrscheinlich sind.

„Das ist keine Geschichte für die nächsten 3–4 Jahre“

Selbst Befürworter der Initiative warnen, dass die Umsetzung Zeit braucht. „Wir sprechen nicht von einem Konzept, das in den nächsten drei oder vier Jahren realisiert wird – eher später“, sagte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius auf einem Panel in Warschau. „Wir müssen Prioritäten setzen – und aus meiner Sicht liegen sie anderswo.“

Mit den Gesprächen vertraute Personen beschreiben die „Mauer“-Idee als griffiges PR-Etikett, das eine sehr komplexe Realität überdeckt. Insbesondere stößt der Aufbau einer lückenlosen „Barriere“ entlang der östlichen Flanke der EU auf die hohe Dichte des europäischen Luftraums – Passagier- wie Frachtflüge –, was das Risiko von Kollateralschäden bei Abfängen vervielfacht.

Das Kernproblem heißt klassische Luftverteidigung – nicht nur Drohnen

Inmitten einer Welle der „Dronifizierung“ in Brüssel und den Hauptstädten droht eine grundlegende Tatsache aus dem Blick zu geraten: Europa mangelt es an Luft- und Raketenabwehr und es ist bei weitreichenden Fähigkeiten fast vollständig auf die USA angewiesen – just in einer Phase, in der Präsident Donald Trump die Verbündeten zu mehr Eigenständigkeit drängt.

„The number one issue is still classical air defense“ („Problem Nummer eins ist weiterhin die klassische Luftverteidigung“), sagte Lettlands Präsident Edgars Rinkēvičs gegenüber Bloomberg. Er erkannte an, dass Drohnen „ein sehr wichtiger Faktor des Krieges“ seien, warnte aber zugleich vor einem „Ausschlag ins andere Extrem“, bei dem dringlichere Prioritäten aus dem Blick geraten.

Der jüngste Vorfall, bei dem drei russische Kampfjets in den estnischen Luftraum eindrangen, war für Riga und seine Nachbarn eine erneute Mahnung: Die NATO müsse die Regeln überdenken, die das Vorgehen und den militärischen Einsatz in solchen Situationen bestimmen.

Technologietempo: „Was 2024 großartig ist, ist bis Oktober 2025 veraltet“

Sowohl in der EU als auch in der NATO wird eine zentrale Schwierigkeit eingeräumt: die Diskrepanz zwischen behördlichen und industriellen Zeithorizonten und der Geschwindigkeit der Drohneninnovation. „Great technology in 2024 is no longer great in October 2025“ („Großartige Technologie von 2024 ist im Oktober 2025 nicht mehr großartig“), bemerkte Rinkēvičs. „Allen ist inzwischen klar, dass wir diese ‚Drohnenmauer‘ schon vor ein oder zwei Jahren gebraucht hätten.“

Daher der Schwenk zu modularen, schnell einsetzbaren Lösungen: Netze aus Sensoren und Elektronischer Kampfführung (EW), kostengünstige Abfangmittel, Laser sowie gemischte Batterien, die nicht „mit Kanonen auf Spatzen schießen“ – also keine teuren Raketen auf Pfennig-Ziele abfeuern.

Wer hat das Kommando? Koordination und Vernetzung

Laut Bloomberg steht für die EU an erster Stelle, zu klären, wer die Koordination übernimmt und wie bestehende nationale und regionale Initiativen so miteinander verknüpft werden können, dass sie „über“ nationalen Assets operieren, statt sie zu duplizieren. Im Kern geht es um eine vernetzte Architektur: einheitlicher Datenaustausch, synchronisierte Aufklärung und Abfangmaßnahmen, gemeinsame Protokolle und Interoperabilität.

Das Nadelöhr: Geld und der EU-Haushaltszyklus

Ein weiteres Hindernis ist die Finanzierung. Den Mitgliedstaaten bleiben nur rund zwei Monate, um Vorhaben für die EU-Darlehensfazilität in Höhe von 150 Mrd. € einzureichen. Danach schließt sich dieses „Fenster“ bis zum nächsten siebenjährigen Finanzrahmen – der erst 2028 beginnt. Mit anderen Worten: Selbst bei politischem Willen könnten Finanzierungslücken die Einführung um Jahre verzögern.

Zur Unterstützung der Ukraine kündigte die EU die beschleunigte Bereitstellung von 6 Mrd. € aus einem G7-Kredit an, der durch Übergewinne aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten gedeckt ist – Mittel, die für den Aufbau einer „Drohnenallianz“ mit Kiew vorgesehen sind. Bis zu 4 Mrd. € sollen bis Jahresende verfügbar sein, so eine Quelle. Offiziell ist das Geld für die Ukraine bestimmt, in Brüssel rechnet man jedoch mit positiven Spillover-Effekten für Europa – Zugang zu ukrainischem Know-how und Produktionskapazitäten, die auch EU-Bedarfe decken könnten.

Ukrainische Erfahrung als Wettbewerbsvorteil

Dreieinhalb Jahre umfassender Krieg haben Kiew zu einem einzigartigen Testfeld für die Abwehr von Drohnenangriffen gemacht – von Massenschwärmen über weitreichende Schläge bis hin zu Gegenmaßnahmen der elektronischen Kriegsführung. Für Europa ist das die Chance, erprobte Taktiken, Steuerungsalgorithmen und kostengünstige technische Lösungen zu „importieren“, vorausgesetzt, es gelingen die rechtlichen und industriellen Brücken.

Berlins Haltung: Mehr nationale Ausgaben, derzeit keine gemeinsamen Schulden

Vor dem Treffen in Kopenhagen rechnet Deutschland mit einer heftigen Debatte über die Finanzierung europäischer Vorzeige-Verteidigungsprojekte, einschließlich der „Drohnenmauer“. Nach Angaben von Bloomberg erhöht Berlin seine eigenen Verteidigungsausgaben deutlich und erwartet Gleiches von anderen Hauptstädten auf nationaler Ebene, lehnt jedoch neue gemeinsame Kreditaufnahmen derzeit ab.

Die „Drohnenmauer“ ist keine Wunderwaffe

Europa beschleunigt tatsächlich – politisch wie auch auf dem Markt für Verteidigungstechnologie. Doch eine „Drohnenmauer“ ist keine schnelle Eins-zu-eins-Antwort, sondern eine langwierige, teure Erneuerung des gesamten Luftsicherheits-Systems – von grundlegender Luft- und Raketenabwehr sowie Frühwarnung bis hin zu verteilter, vernetzter Abwehr unbemannter Systeme. Vorerst bleibt die Lücke zwischen dem, was „gestern“ nötig war, und dem, was „übermorgen“ tatsächlich eingeführt wird, das größte Sicherheitsrisiko für den Kontinent.


Dieser Artikel wurde auf Grundlage von bei Bloomberg veröffentlichten Informationen erstellt. Der vorliegende Text stellt eine eigenständige Bearbeitung und Interpretation dar und erhebt keinen Anspruch auf die Urheberschaft der ursprünglichen Inhalte.

Das Originalmaterial ist unter folgendem Link einsehbar: Bloomberg.
Alle Rechte an den ursprünglichen Texten liegen bei Bloomberg.

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