Kernaussage. Russland und China sind einem Abkommen über das seit Langem geplante Pipeline-Projekt Power of Siberia 2 näher gekommen. Die Leitung soll die russischen Gaslieferungen in die Volksrepublik deutlich ausweiten und beide Volkswirtschaften enger binden – vor dem Hintergrund verschlechterter Beziehungen beider Länder zu den USA. Entscheidend ist jedoch: Die Parteien ließen die zentralen Bedingungen (Gaspreis, Finanzierung und Bauzeitplan) offen. Das unterstreicht Pekings wachsenden Hebel und Moskaus steigende Abhängigkeit vom chinesischen Markt. Nach Ansicht des Wall Street Journal hält derzeit vor allem China „alle Karten in der Hand“, weil es sich Zeit lassen und auf bessere Konditionen drängen kann.
Was formell vereinbart wurde
Nach Gesprächen in Peking, an denen Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Staatspräsident Xi Jinping teilnahmen, teilte Moskau die Unterzeichnung eines rechtlich verbindlichen Memorandums über den Bau von Power of Siberia 2 mit. Das Flaggschiff-Infrastrukturvorhaben soll die Gasfelder auf der Jamal-Halbinsel mit dem chinesischen Markt verbinden und die 2019 in Betrieb gegangene Power of Siberia logisch fortsetzen – ein weiterer Baustein der engeren Energiepartnerschaft. Das chinesische Außenministerium formulierte allgemein, Peking und Moskau betrieben „praktische Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen, einschließlich Energie“.
Was weiterhin offen ist
Die Schlüsselparameter – Gaspreisgestaltung, Finanzierungsmechanik und der exakte Bauzeitplan – blieben ungeklärt. Genau diese Punkte haben das Projekt seit Jahren gebremst und sind heute ein Indikator für Chinas größeren Handlungsspielraum. Mit alternativen Gasquellen im Rücken kann sich Peking erlauben, nicht zu drängen und zugleich bessere Bedingungen zu verlangen. Moskau dagegen ist nach dem drastischen Einbruch der Verkäufe nach Europa bemüht, die Exportströme rasch umzulenken.
Nach russischer Darstellung wird der Gaspreis für China unter dem europäischen Niveau erwartet. Wie Gazprom-Chef Alexei Miller (unter Berufung russischer Medien via TASS) präzisierte, wird der endgültige Preis für Power of Siberia 2 separat verhandelt.
Warum China die Oberhand hat
Westliche Sanktionen nach Russlands Invasion in die Ukraine haben die Pipeline-Gasexporte in die EU – den historisch wichtigsten Absatzmarkt – deutlich reduziert. Um die Deviseneinnahmen aus Energie zu sichern, lenkt Moskau Öl- und Gasströme beschleunigt nach China um. Das hat die Asymmetrie der Beziehungen verstärkt: Russlands Abhängigkeit von chinesischer Nachfrage und Technologie wächst, während China – so das Wall Street Journal – ein diversifizierter Abnehmer und Lieferant bleibt, einschließlich Gütern mit Dual-Use-Potenzial.
„Die Vereinbarung zeigt, dass China an der Pipeline und an Russlands Energieressourcen interessiert ist, aber das ist noch kein endgültiger Deal“, sagt Alexander Gabuev, Direktor des Carnegie Russia Eurasia Center und Experte für die Beziehungen zwischen China und Russland. „Sie zeigt, wie asymmetrisch diese Beziehung zunehmend wird – China hält alle Karten.“
Gabuev betont, dass angesichts des Ziels der EU, russische Energie bis 2027 vollständig auslaufen zu lassen, neue Vereinbarungen eher zugunsten Chinas ausfallen dürften. Zugleich schließt sich Russlands Zeitfenster: China beschleunigt die Dekarbonisierung und baut die Nutzung erneuerbarer Energien aus.
„Russland ist völlig vom Wohlwollen der Chinesen abhängig“, resümiert der Experte.
Projektparameter und begleitende Ströme
- Route und Ressourcenbasis. Power of Siberia 2 soll Gas von der Jamal-Halbinsel über die Mongolei in nördliche Provinzen Chinas transportieren – in den größten Energiemarkt der Welt.
- Mengen. Laut Alexei Miller zielt das Projekt auf 50 Milliarden Kubikmeter (bcm) pro Jahr an Lieferungen nach China über 30 Jahre.
- Bestehende Flüsse. Die Exporte über die bereits laufende Power of Siberia sollen von 38 bcm auf 44 bcm steigen.
Was einen finalen Abschluss bremst
- Preise und Eigentum. Langjährige Differenzen über Tarife und die Eigentumsverhältnisse an der Infrastruktur bestehen fort.
- Abhängigkeitsrisiko. Peking scheut eine zu starke Bindung an einen einzigen Gaslieferanten – ein eigenständiger Vorsichtsgrund.
- Alternativen für China. Auf dem Markt ist reichlich LNG aus dem Nahen Osten und anderswo verfügbar; in den kommenden Jahren geht zudem neue LNG-Kapazität ans Netz. Das mindert Chinas Bedarf an zusätzlichen russischen Pipeline-Mengen.
- Informelle Obergrenzen. Nach Berichten des Wall Street Journal halten chinesische Stellen eine inoffizielle Import-Obergrenze von etwa 20 % pro Lieferant ein – auch das bremst die Gespräche.
- Liefer-Geopolitik. Der Krieg zwischen Israel und Iran veranlasste Peking, die Zuverlässigkeit von Öl und Gas aus dem Nahen Osten neu zu bewerten (ebenfalls vom WSJ berichtet). Trotzdem ist China nicht in Eile, „Alternativen die Tür zu schließen“.
Schieflage im Handel: Wer braucht wen mehr?
Seit Beginn des großangelegten Krieges ist der bilaterale Handel noch unausgewogener geworden. Schätzungen zufolge entfallen rund ein Drittel von Russlands Gesamtaußenhandel inzwischen auf China, während Russlands Anteil am chinesischen Außenhandel unter 5 % liegt. De facto ist Peking zu einer ökonomischen Lebensader für Russlands sanktionsgeplagte Wirtschaft geworden: China kauft Energieträger und liefert eine enorme Bandbreite an Gütern – von Elektronik und Haushaltsgeräten bis zu Traktoren. Darüber hinaus ist China zu einer kritischen Quelle für Optik, Mikroelektronik, Drohnenmotoren und andere Komponenten geworden, die Russlands Kriegsmaschinerie ermöglichen.
Warum Moskau das Projekt dringlicher braucht als Peking
Für Russland ist die Ausweitung des Pipeline-Netzes der einzig realistische Weg, die Gaslieferungen nach China kurzfristig deutlich zu erhöhen: Die bestehenden Verbindungsleitungen und die begrenzte LNG-Kapazität können den Verlust des europäischen Marktes nicht ausgleichen. Für China hingegen sind zusätzliche Käufe aus Russland eine Option, keine Notwendigkeit: Ein globaler LNG-Markt mit hoher Verfügbarkeit und der beschleunigte grüne Umbau verschaffen Peking erheblichen Spielraum. Deshalb ziehen sich die Verhandlungen seit Jahren – trotz wiederholter russischer Ankündigungen, ein Abschluss stehe „kurz bevor“.
Power of Siberia 2 ist ein politischer Schritt nach vorn auf dem Papier, aber kein echter Durchbruch. Das Memorandum hat Signalwirkung, doch Zahlen und Zeitpläne – die Peking nicht eilig festzurrt – werden alles entscheiden. Solange China Alternativen hat, wird es Maximalbedingungen durchsetzen. Russland, das den europäischen Markt verloren hat und rasch Ersatz sucht, verhandelt aus der schwächeren Position. Nach Einschätzung des Wall Street Journal prägt genau diese Asymmetrie der wechselseitigen Abhängigkeit die Gespräche: Peking ist offen für Kooperation, wird aber Tempo und Parameter des Deals vorgeben.
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