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„Wachsende innerparteiliche Frustration: In Selenskyjs Umfeld ist von ‚Schrauben anziehen‘ und Machtkonzentration die Rede“

5 Min. Lesezeit
Selenskyj
Es scheint, dass sich nicht mehr nur Wolodymyr Selenskyjs parteipolitische Rivalen über eine schleichende Machtmonopolisierung Sorgen machen. | Kristian Tuxen Ladegaard Berg/NurPhoto/Getty Images via Politico

Laut POLITICO wächst in der Partei „Diener des Volkes“ von Präsident Wolodymyr Selenskyj die verdeckte Unzufriedenheit über seinen Regierungsstil und die Bestrebungen, den Raum für unabhängige Institutionen und Kritik zu verengen. Im Zentrum steht ein nichtöffentliches Treffen in der Rada in der vergangenen Woche, bei dem der ukrainische Staatschef nach Angaben zweier Abgeordneter scharf gegen jene austeilte, die, wie er es sieht, „kein bedingungslos schmeichelhaftes Bild der Ukraine“ gegenüber westlichen Partnern zeichnen.

„Entweder ihr seid mit uns oder …“

Quellen von POLITICO beschreiben die Atmosphäre des Treffens als angespannt: Selenskyj tadelte Abgeordnete, Aktivisten und Journalisten dafür, dass Gespräche über Korruption und Rechtsverstöße seiner Ansicht nach vom Wesentlichen ablenken — vom Krieg und der Notwendigkeit, die äußere Unterstützung zu konsolidieren. Die Hoffnung, der Präsident werde versöhnliche Töne anschlagen, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Fraktionsmitglieder sagen, seine Rhetorik habe die Befürchtung nur verstärkt, dass es längst nicht mehr nur um die Opposition gehe — zunehmend werden Zweifel auch innerhalb der eigenen Partei laut.

Ein Abgeordneter räumte ein: „Obwohl Selenskyj sagte, er werde sich häufiger mit uns beraten, fällt es schwer, daran zu glauben. Die gesamte Linie weist auf ein weiteres Anziehen der Schrauben im Inland hin. Aus Sicht des Präsidialamts gilt: Entweder man steht hinter Selenskyj oder man ist ein ‚russischer Agent‘.“

Der Rückschlag bei den Anti-Korruptionsbehörden und seine Folgen

Der Sommer versuchte, zwei zentrale unabhängige Anti-Korruptionsorgane dem politisch ernannten Generalstaatsanwalt zu unterstellen — ein Kristallisationspunkt der Verärgerung selbst bei Mitgliedern der Regierungspartei. Nach Angaben von POLITICO drückte das Präsidialamt das Gesetz trotz der Zweifel vieler Abgeordneter mit Nachdruck durch. Doch schon am Tag nach der Unterzeichnung kam es in Kiew zu den ersten Straßenprotesten seit Beginn des russischen Großangriffs, und aus Europa folgten Warnungen vor einem „demokratischen Rückschritt“. Selenskyj musste zurückrudern.

Laut Fraktionsinsidern versuchte die Bankowa anschließend, die Verantwortung auf die Abgeordneten selbst abzuwälzen — nicht zum ersten Mal, dass unpopuläre Initiativen als „Fehler der anderen“ dargestellt werden. Der Vorfall hinterließ bei vielen die Frage, wie das Team des Präsidenten eine so scharfe öffentliche Reaktion verkennen konnte, wo Umfragen doch durchweg zeigen: Selbst im Krieg betrachten die Ukrainer Korruption als das größte innenpolitische Problem.

„Schnelle Hand“ in Kriegszeiten — und Gegenwind

Kritiker des Präsidenten sprechen seit Langem von populistischer Ungeduld mit parlamentarischen Verfahren und ausgeprägter Empfindlichkeit gegenüber Kritik. Seine Verteidiger halten dagegen, Kriegszeiten erforderten eine harte vertikale Führungsstruktur und Entschlossenheit. Wie der Leiter des Präsidialamts Andrij Jermak POLITICO bereits Anfang des Jahres erinnerte: „Gerade in Kriegszeiten müssen Entscheidungen schnell und eindeutig getroffen werden.“ Das Team verweist zudem auf Selenskyjs hohe Zustimmungswerte.

Viele Kritiker gestehen allerdings zu, dass der „Lärm der Demokratie“ die Verteidigung nicht behindern dürfe. Zugleich erinnern sie an historische Beispiele einer anderen Logik — etwa Winston Churchill, der im Krieg bemüht war, die „Besten und Klügsten“ ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit in die Regierung zu holen und so die Koalition zu verbreitern, statt sie zu verengen.

Zunehmende Zentralisierung und wachsender Unmut in der Fraktion

Nicht nur Gegner, auch Verbündete Selenskyjs sind über den Kurs der Machtbündelung besorgt. Wie drei in Kiew stationierte europäische Diplomaten POLITICO berichteten, äußern westliche Partner ebenfalls privat Bedenken — öffentliche Kritik scheuen sie, um russischer Propaganda keinen Auftrieb zu geben. In der Partei selbst wächst der Ärger: Regelmäßige Berichte der Minister in Parlamentsausschüssen sind nahezu verschwunden, und der Präsidialverwaltung fällt es immer schwerer, Mehrheiten für „Prioritätsgesetze“ zu organisieren. Abgeordnete sind des ständigen Drucks, sich der Bankowa zu fügen, müde und fürchten, vor den Wählern für Fehler der Regierung haftbar gemacht zu werden.

Diese Unruhe entstand bereits vor dem Versuch, die Anti-Korruptionsorgane „zurechtzustutzen“. Hinzu kommt eine Serie von Umbildungen, bei denen unabhängigere und streitbare Köpfe ihre Posten räumten. Nach Angaben von POLITICO gehören zu den jüngsten prominenten Abgängen Außenminister Dmytro Kuleba, der Chef des Stromnetzbetreibers Ukrenergo, Wolodymyr Kudryzkyj, und der populäre Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj (nun Botschafter im Vereinigten Königreich), dessen strategische Vorstellungen vom Krieg mit denen des Präsidenten kollidierten.

Jede dieser Rochaden, so das Medium, stärkte den Einfluss des „engen Kreises“ aus Selenskyjs Vertrauten und Beratern, während „Abweichler“ — oder schlicht eigenständige Köpfe — an den Rand gedrängt wurden.

US-Kontext: Wortgefecht im Oval Office und der „Vance-Effekt“

Verbessert wurde die Gesamtlage auch nicht durch eine Episode im Oval Office, in der Selenskyj laut POLITICO vom abgestimmten Skript abwich und in ein verbales Gefecht mit Präsident Donald Trump geriet — nicht zuletzt angefeuert vom US-Vizepräsidenten JD Vance. Vor diesem Hintergrund gab der Parlamentspräsident und „Diener des Volkes“-Abgeordnete Ruslan Stefantschuk eine eigenständige Erklärung ab, wonach die Beziehungen zu Washington zügig repariert werden müssten — ein Schritt, den viele als verklausulierte Kritik am Präsidenten verstanden. Das nährte die Erwartung, Selenskyj werde in der vergangenen Woche versuchen, seine Fraktion zu „beruhigen“. Den Schilderungen zweier Abgeordneter nach kam es anders.

Demnach zeigte sich der Präsident unzufrieden mit der schwachen Teilnahme — rund hundert Abgeordnete der Regierungspartei seien gar nicht erschienen. Die Spannung wuchs, als ein Anwesender direkt fragte, ob es klug sei, die Anti-Korruptionsbehörden just in dem Moment „zusammenzustreichen“, in dem sie Personen nahe der Präsidialverwaltung ins Visier nähmen.

Neue Verbote und die „Logik politischer Selektion“

Im September häuften sich die Zeichen des „Schrauben anziehens“, berichtet POLITICO. So fiel eine Gruppe von etwa zwanzig ehemaligen und pensionierten ukrainischen Diplomaten und Gesandten unter eine neue Regelung: Auslandsreisen für Abgeordnete und Beamte nur noch mit besonderer Genehmigung der Behörden. Betroffen war auch Kuleba. Seine Worte gegenüber dem Medium klingen wie eine Diagnose des Trends: „Es ist schwer zu verstehen, warum es im vierten Kriegsjahr plötzlich so wichtig wurde, einer Gruppe von höchstens zwanzig Personen Auslandsreisen zu verbieten — Menschen, die über Kontakte und Autorität verfügen, um die Interessen der Ukraine gegenüber ausländischen Zielgruppen zu vertreten. Die einzige Erklärung kann politischer Natur sein. Und sobald eine solche politische Logik Fuß fasst, wird es möglich, willkürlich zu entscheiden, welchen Personenkategorien etwas erlaubt oder verboten ist. Botschafter sind nur ein Beispiel, das jedoch ein viel tiefer liegendes Problem offenlegt.“

Der zentrale Nerv: Krieg versus innere Korrosion

Der zentrale Paradox der Lage in der Ukraine ist einfach, schreibt POLITICO: Eine durch den Krieg mobilisierte Gesellschaft betrachtet Korruption weiterhin als die größte interne Bedrohung. Versuche, unabhängige Institutionen zu Instrumenten politischer Kontrolle zu machen, rufen nicht nur Protest hervor — sie untergraben das Vertrauen in die Staatsführung gerade dann, wenn das Land eine breite Vertrauenskoalition am nötigsten hat: vom Parlament und der Zivilgesellschaft bis zu den westlichen Partnern.

Die Wette auf „Tempo um jeden Preis“ könnte weiter Fehlzündungen produzieren — bei Parlamentsabstimmungen, auf der Straße und auf der internationalen Bühne. Die Geschichte legt nahe: Selbst im Krieg setzten sich starke Führungspersönlichkeiten eher durch, wenn sie den Kreis der Mitentscheidenden erweiterten und — mindestens — jene anhörten, die anders denken.


Dieser Artikel wurde auf Grundlage von bei Politico veröffentlichten Informationen erstellt. Der vorliegende Text stellt eine eigenständige Bearbeitung und Interpretation dar und erhebt keinen Anspruch auf die Urheberschaft der ursprünglichen Inhalte.

Das Originalmaterial ist unter folgendem Link einsehbar: Politico.
Alle Rechte an den ursprünglichen Texten liegen bei Politico.

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