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Wurde eine neue Michelangelo-Zeichnung entdeckt?

3 Min. Lesezeit
Skizze eines Fußes
Das Zeichenpapier stammt aus der richtigen Zeit, und der Farbton entspricht genau der von Michelangelo verwendeten Kreide. CHRISTIE’S / TWOPOINTO MEDIA über The Times

Eine unerwartete Einsendung über das Online-Portal des Auktionshauses Christie’s hat Experten zu einer der faszinierendsten Entdeckungen des Jahrzehnts geführt. Ein Mann aus Nordkalifornien lud ein Foto einer kleinen – nur rund 13 Zentimeter großen – Fußzeichnung hoch, in der Annahme, sie könne von Michelangelo stammen. Normalerweise werden solche Vermutungen schnell widerlegt, denn Spezialisten erhalten täglich Dutzende vermeintlicher „verschollener Meisterwerke“. Doch diesmal war alles anders.

Nach Angaben der The Times verbrachte Giada Damen, Expertin für Alte Meister bei Christie’s in New York, Monate mit der Untersuchung und kam zu einem sensationellen Ergebnis: Die Zeichnung könnte tatsächlich eine der vorbereitenden Studien Michelangelos für die Libysche Sibylle sein – eine der monumentalen Figuren an der Decke der Sixtinischen Kapelle.

Papier aus der Renaissance und ein vertrauter Stil

Die Skizze – eine Ferse, ein gewölbtes Fußbett und ausgestreckte Zehen – entspricht exakt der Haltung und den Formen des rechten Fußes der Sibylle. Experten verglichen die Arbeit mit Michelangelos Vorstudien im Metropolitan Museum of Art. Das Papier entspricht dem richtigen Zeitraum, der Farbton der Kreide ist nahezu identisch, und die Linien sind kräftig, mutig und anatomisch ausdrucksstark – typisch für Michelangelos spätere Vorzeichnungen.

Dies ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass Experten eine bislang unbekannte Michelangelo-Zeichnung identifiziert haben. Nur etwa fünfzig seiner vorbereitenden Blätter zur Kapelle haben überdauert, und lediglich zehn befinden sich in Privatbesitz.

Wie das Meisterwerk in der Familie blieb

Der Eigentümer berichtete, dass die Zeichnung seiner Großmutter gehörte und jahrzehntelang schlicht gerahmt neben einem unbedeutenden Porträt aus dem 19. Jahrhundert hing. Auf der Rückseite hatte sie notiert: „Michelangelo Saint-Saphorin“.

Der Name erwies sich als entscheidend: Ein Vorfahre, Armand Louis de Mestral de Saint-Saphorin, war ein Schweizer Diplomat des 18. Jahrhunderts im Dienst des dänischen Königs und sammelte Kunstwerke auf seinen Reisen durch Europa. So dürfte die Zeichnung in den Besitz der Familie gelangt sein und über Generationen unbemerkt geblieben sein. Als die Großmutter in ein Pflegeheim zog, wurde der Nachlass verteilt – und die Skizze gelangte zufällig zum heutigen Besitzer.

Auf Damen’s Rat hin nahm er sie aus dem Rahmen – und machte eine neue Entdeckung: Unter hellem Licht wurden zusätzliche Linien auf der Rückseite sichtbar. Bei Christie’s zeigten Infrarotaufnahmen eine weitere Beinskizze in schwarzer Kreide.

Interessanterweise finden sich auf der Rückseite des Blattes im Metropolitan Museum ähnliche anatomische Studien – ein weiterer Hinweis auf die mögliche Echtheit.

Das Rätsel um den rechten Fuß der Libyschen Sibylle

Das Blatt im Metropolitan Museum zeigt den linken Fuß. Doch um 1600 fertigte ein unbekannter Künstler eine Abschrift der damals bereits verlorenen Michelangelo-Zeichnungen an – und darin ist der rechte Fuß enthalten, der lange als verschollen galt. Experten vermuten nun, dass Michelangelos großes Originalblatt, auf dem beide Füße dargestellt waren, auseinandergetrennt wurde – und der neu entdeckte Teil in Kalifornien der verschollene rechte Fuß ist.

Die letzten Jahre an der Decke

Die Libysche Sibylle gehört zu zwölf gigantischen Figuren – sieben Propheten und fünf Sibyllen – entlang des Gewölbes der Kapelle. Sie sitzt über dem Altar und gilt als eine der letzten Figuren, die Michelangelo zwischen 1511 und 1512 vollendete.

Nachdem er die erste Hälfte der Decke beendet hatte, stieg er vom Gerüst herab und erkannte, dass die Figuren vom Boden aus zu klein wirkten. Daher gestaltete er die zweite Hälfte deutlich größer und ausdrucksstärker. Unter Zeitdruck entstanden kraftvolle anatomische Studien – genau jener Stil, zu dem auch die neu entdeckte Zeichnung passt.

Warum so wenige Zeichnungen überlebt haben

Laut The Times sind Michelangelos erhaltene Skizzen nicht nur aufgrund ihres Alters selten: Der Künstler vernichtete selbst den Großteil seiner Entwürfe. Aus Florenz ließ er seinen Assistenten in Rom anweisen, die zurückgelassenen Zeichnungen zu verbrennen. Sein Biograf Giorgio Vasari berichtete, dass Michelangelo kurz vor seinem Tod viele seiner Entwürfe eigenhändig verbrannte.

Von den ursprünglich wohl hunderten Blättern haben nur etwa fünfzig überlebt. Und offenbar hing eines davon jahrzehntelang unbeachtet an einer Wand in Kalifornien.

„Nicht der Lieblingsenkel“

Damen erinnert sich, wie sie den Besitzer fragte: „Waren Sie der Lieblingsenkel?“ Er lachte nur – nein, seine Großmutter habe einfach alte Dinge verteilt, ohne zu ahnen, dass sich darunter ein Schatz der Renaissance befand.

Der Wert des Blattes wird sich im Februar zeigen, wenn Christie’s es in New York versteigert. Doch schon jetzt verändert die Geschichte dieser Entdeckung die Vorstellung davon, wie viele Michelangelo-Schätze sich noch in Privathäusern verbergen könnten – und wie leicht sie übersehen werden.


Dieser Artikel wurde auf Grundlage von bei The Times veröffentlichten Informationen erstellt. Der vorliegende Text stellt eine eigenständige Bearbeitung und Interpretation dar und erhebt keinen Anspruch auf die Urheberschaft der ursprünglichen Inhalte.

Das Originalmaterial ist unter folgendem Link einsehbar: The Times.
Alle Rechte an den ursprünglichen Texten liegen bei The Times.

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